Entscheidungsfindung Theorie

Ich beschreibe im Folgenden zwei sehr unterschiedliche Wege, wie Wohnprojekte zu Entscheidungen kommen, die für das Zusammenleben wichtig sind. Dabei geht es untrennbar um Gerechtigkeit, also was die Gemeinschaft als gerecht empfindet und jeder Mensch für sich betrachtet. Die Wege bilden sich zumeist schon früh heraus, also in der Entwicklungszeit der Projekte. Es kann auch zu einem Wechsel der eingeschlagenen Wege kommen, dazu später mehr.

Verfasst von Michael Graf

 

Fall 1: Konsensverfahren / Basisdemokratie ohne Mehrheitsentscheid

Bei der Entscheidung im Konsens, also ohne "Gegenstimme", geht man davon aus, dass sich die Gerechtigkeit quasi automatisch ergibt. Da alle an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, können Menschen es zum Ausdruck bringen, wenn sie etwas als Ungerecht empfinden. Hier gibt es wiederum verschiedene Wege, wie der Konsens als Konsens erkennbar wird.

  • Man kann so lange reden, bis sich Niemand mehr wehrt.
  • Man kann Konsensverfahren einführen, etwa das systemische Konsensieren oder das systemische Schnellkonsensieren.

In jedem Falle geht es darum, das Argumente ausgetauscht werden. Die besseren Argumente sollen ein formuliertes Anliegen dann zur Entscheidung der Ausführung dieses Anliegens bringen. Das erstgenannte Verfahren kann dazu führen, dass die leisen Stimmen nicht gehört werden. Das systemische Konsensieren (auch Soziokratie genannt) sorgt dafür, dass die Widerstände abgefragt werden. Eine erste Runde dient dem Austausch der Randbedingungen, nicht Diskussion über die Abwägung der Vor- und Nachteile einer Entscheidung, sondern der Auswirkungen, die gesehen werden. Dann werden die Widerstände abgefragt. Wenn es keine Widerstände gibt, ist die Entscheidung da. Wenn es nur geringe Widerstände gibt, zumeist auch. Ein einziger sehr hoher Widerstand genügt, um eine Entscheidung zu stoppen. Dann ist es das Ziel, über diesen Widerstand zu sprechen und Ideen zu entwickeln, diesen Widerstand durch eine Modifikation des Beschlusses zu senken. Wenn dies gelingt, und dadurch kein neuer hoher Widerstand bei anderen Mitgliedern erzeugt wird, ist die Entscheidung da.

  • In der Theorie halten im Konsens getroffene Entscheidungen dadurch sehr lange, weil alle Menschen die Möglichkeit hatten, an der Entscheidung zu Arbeiten.
  • Es kann vorkommen, dass am Konsens beteiligte später sagen, sie hätten von den Details nichts gewusst oder sie waren nicht anwesend. Dazu ist es wichtig, dass die Tagesordnung zuvor einen Beschluss ankündigt. Ein interner BLOG ist da ein gutes Hilfsmittel.

 

Fall 2: Der Vorstand regiert / das Volk liest Protokolle

Die Regierung des Vorstands hat zunächst für alle Beteiligten Vorteile. Man braucht sich als Regierte keine Gedanken machen, weil der Vorstand über die Anliegen entscheidet. Dies kann sehr bequem sein. Der Vorstand kann sehr schnell reagieren, weil man Niemanden fragen muss. Das erhöht die Reaktionsgeschwindigkeit enorm und erweist sich in der Entwicklungszeit oft als Vorteil, wenn man mit externen Strukturen zu tun hat, die kein anderes Verfahren kennen. Daher bildet sich dieses "Verfahren" häufig schon bei der Entstehung von Wohnprojekten heraus. Da die Entscheidungsträger diese Macht nicht gerne wieder her geben, bleibt es häufig auch nach der Realisierung des Projektes dabei, man hat sich auch bequem darin eingerichtet.

  • Der Vorstand festigt über die Zeit seine Macht, weil er auch das Wissen zu dem "Entscheidungsprozess" für sich behält.
  • Der Vorstand nutzt seinen Wissensvorsprung dazu, diesen Vorsprung weiter zu vergrößern und festigt damit seine Macht weiter
  • Falls es Kritiker*innen geben sollte, die dem Vorstand durch Argumentation eine Fehlentscheidung vor Augen führen, kann und darf dies nicht sein. Der Vorstand hat Recht. Falls die Kritiker*innen nicht verstummen, gibt es zwei Lösungsansätze: Die Kritiker*innen werden diffamiert oder man Arbeitet daran, die Kritiker entweder in die innere oder externe Immigration zu bewegen. Dies ist eine natürliche Konsequenz aus dem Machtgefälle, welches erzeugt ist. Dieses Machtgefälle neigt zu einem Missbrauch des Gefälles.
  • Später ist es zumeist nicht mehr möglich, einen regierenden Vorstand vom Regieren zu befreien, also zu einem Konsensverfahren zu wechseln. Umgekehrt geht es allerdings vergleichsweise einfach.

Wenn der Vorstand regiert, kann er eigene Fehler leicht verbergen. Wenn der Vorstand allerdings einen Fehler macht, der sich nicht verbergen lässt, dann kehrt sich der Vorteil ins Gegenteil.

  • Die Entscheidungen halten dadurch, dass sie von den Mächtigen getroffen wurden. Sie werden in einem Protokoll festgehalten und den Regierten so bekannt gemacht.
  • Die Entscheidungen halten dadurch, dass sich die überwiegende Mehrheit damit abfindet oder kein Interesse hat
  • Widerstände Einzelner zählen nicht.